Die IEC61131 ist für die heutige Automatisierung nach wie vor das Maß aller Dinge. Und das, obwohl den SPS-Logiken und proprietären Systeme vielfach ein Ende prophezeit wird. Rückt jetzt vielleicht doch noch eine Norm aus dem Jahr 2005 in den Fokus: die IEC 61499?
Der Begriff Automatisierung lässt sich auf zweierlei Arten verstehen. Während er zum einen technische Systeme bezeichnet, die ohne menschliches Zutun Werkstücke bearbeiten oder Gebäudefunktionen selbstständig ausführen, steht er zum anderen auch für die Tätigkeit des Automatisierens. Also dafür, wie sich die mechatronischen Komponenten und Mechaniken einer Anlage zueinander in Beziehung setzen oder orchestrieren lassen. Mit Erfindung der SPS hat sich dafür vor über 50 Jahren eine spezifische Herangehensweise etabliert, die die Automatisierung bis heute entscheidend geprägt hat. Festgehalten ist diese Logik in der Norm IEC 61131.
Was sich seither in der Automatisierungswelt gebildet hat, ist eine Art Anachronismus. Während sich Technologien, Rechenleistung, Bandbreiten, aber auch die Anforderungen an wandelbare und modulare Anlagen teils rasant weiterentwickelt haben, ist die Uhr in Sachen Automatisierungslogik praktisch stehengeblieben. Der grundlegende Ansatz, nach dem heute automatisiert wird, hat sich im Vergleich zu den 1970er Jahren kaum verändert. Hinzu kommt, dass die IEC 61131 der Kopplung von Hardware und Software praktisch keinerlei Grenzen gesetzt hat. Wenn heute allerorten von IoT und durchgängiger Vernetzung die Rede ist, wirkt die Existenz dieser herstellerabhängigen Systeme fast wie aus der Zeit gefallen. Hat doch die nüchterne Automatisierungsrealität mit IT-Logiken, wiederverwendbaren Softwareobjekten oder Interoperabilität nur wenig zu tun.
Bereits im Jahr 2005 wurde mit der Norm IEC 61499 ein Versuch unternommen, die Grundregeln der Automatisierung in das 21. Jahrhundert zu überführen. Wenn auch als Weiterentwicklung der IEC 61131 gedacht, beschreibt die IEC 61499 im Kern eine vollkommen andere Herangehensweise an die Automatisierung: Herstellerunabhängigkeit, IT-OT-Konvergenz und flexible Architekturen stehen dabei im Mittelpunkt. Viel getan hat sich seither allerdings nicht. Erst jetzt ist der „Leidensdruck“ bei Endanwendern und Maschinenherstellern groß genug, um einen Paradigmenwechsel in Sachen Automatisierung ernsthaft in Betracht zu ziehen. Die Gründung der Non-Profit-Organisation UniversalAutomation.Org, der namhafte Industriegrößen angehören, sowie das Commitment eines großen Herstellers wie Schneider Electric sind Beleg dieses Umdenkens. Da damit auch die IEC 61499 ein Revival erlebt, lohnt sich der genaue Blick auf eine Art der Automatisierung, die von IT-Logiken und einer Entkopplung von Hardware und Software geprägt ist.
Die IEC 61499 definiert einen Standard für die softwarebasierte Entwicklung und Konstruktion komplexer Maschinen oder Anlagen mit verteilter Intelligenz. Das hat zur Folge, dass die Logik, die für das Steuern der einzelnen Anlagenteile zuständig ist, nicht länger Sache einer zentralen SPS-Steuerung sein muss. Gemäß IEC 61499 ist es möglich, die im Engineering-Tool erstellten Programmstrukturen frei auf die mechatronischen Komponenten (mit CPU) einer Anlage zu verteilen. So wird ein steuerungszentrierter Automatisierungsansatz von einem anwendungsorientierten abgelöst. Heißt: Nicht mehr ein einzelner Controller wird programmiert, sondern in einer von der Hardware unabhängigen Softwareschicht wird ein Automatisierungsprojekt in Gänze modelliert – und das, noch bevor ein Stück Stahl verbaut werden muss. Ein anderer grundlegender Unterschied ist die Objektorientierung bei IEC 61499. Zwar wird auch bei der IEC 61131 von Funktionsblöcken oder Objekten gesprochen, diese stehen jedoch in direkter Abhängigkeit zu globalen Variablen und damit zum Gesamtprozess. Softwareobjekte, wie sie von der IEC 61499 definiert werden, sind wesentlich unabhängiger, sodass sie sich besser wiederverwenden lassen. Dies hat Einfluss auf den Entwicklungsprozess: Der alte, verfahrensorientierte Programmieransatz wird von einem vom Objekt her gedachten Modellieransatz abgelöst.
Mit Hinblick auf die Anforderungen flexibler und modularer Anlagen, wird Automatisierung im Fall der IEC 61499 konsequent vom Objekt her gedacht. Eigenschaften wie Wiederverwendbarkeit, Übertragbarkeit oder Plug-and-Produce sind dabei von entscheidender Bedeutung. Um das zu garantieren, kommt es auf eine doppelte Unabhängigkeit der Softwareobjekte an. Diese betrifft zum einen die globalen Variablen (die in der IEC 61499 ja bekanntlich keine Rolle spielen), sowie zum anderen die Herstellerbindung. Nur wenn die Verwendung von Softwareobjekten nicht an das Vorhandensein spezifischer Hardwarekomponenten geknüpft ist, lässt sich von wirklicher Offenheit sprechen. Und gerade hier besteht ein wesentlicher Unterschied zur Automatisierung nach IEC 61131. Da es hinsichtlich der herstellerspezifischen Ausgestaltung von Funktionsblöcken keinerlei Einschränkungen oder Richtlinien gibt, ist eine unübersehbare Vielzahl hardwareabhängiger Funktionsbibliotheken entstanden, die der Wiederverwendbarkeit von Objekten enge Grenzen setzt. Insofern ist es zwar so, dass im Fall beider Normen von Objekten die Rede ist – was die Eigenschaften in Bezug auf Wiederverwendbarkeit und Portierbarkeit angeht, sind jedoch entscheidende Unterschiede zu konstatieren.
Gemäß der IEC 61499 können einzelne Geräte beziehungsweise Maschinen, Anlagen oder auch ganze Anwendungsketten ein Softwareobjekt sein. In diesen Objekten beziehungsweise Funktionsblöcken sind die automatisierungsrelevanten Aspekte von Gerät oder Anlage gekapselt: unter anderem die Steuerungslogik, Ein- und Ausgänge, Tests und Simulationen, Dokumentationen, Kommunikationspfade. Im Unterschied zur IEC 61131 können die von der IEC 61499 definierten Objekte – eher Softwarekomponenten – dabei nicht nur einen, sondern je nach Anforderung auch mehrere Algorithmen enthalten. Damit wird die Komplexität des Engineerings deutlich und sinnvoll zugleich reduziert.
Klassische Programmieraufgaben fallen bei einem auf der IEC 61499 basierenden Ansatz – im Gegensatz zur herkömmlichen Vorgehensweise – übrigens nur noch bei der Erstellung der Funktionsbibliotheken an. Liegen diese Bibliotheken einmal vor, können die einzelnen Funktionsblöcke auch ohne spezielles Entwickler-Know-how in Instanzen umgewandelt und zur gewünschten Anlage zusammengefügt werden.
Kennzeichnend für den Automatisierungsansatz der IEC 61499 ist neben der Objektorientierung auch die Eventorientierung. Die in den Objekten gekapselten Algorithmen werden nicht, wie ansonsten üblich, zyklisch abgearbeitet, sondern nur dann aktiv, wenn ein Event sie triggert. Neben Ein- und Ausgängen für den Datenverkehr verfügen Funktionsblöcke daher auch über Ein- und Ausgänge für Events. Kommt ein Event dort an, startet der physische Prozess. Angenehmer Nebeneffekt: Kommunikationsaufwand, CPU-Last und Batterieverbrauch sind deutlich reduziert. Entscheidend aber ist die Überlegenheit der eventorientierten Ausführungslogik mit Blick auf modular und flexibel aufgebaute Anlagen. Denn wird die Steuerungslogik über die gesamte Anlage verteilt, ist es nicht sinnvoll, die Ausführungslogik an eine zentrale SPS-Steuerung zu binden. Ein weiterer Vorteil: Eventorientiert automatisierte Anlagen lassen sich wesentlich leichter in gängige IT-Systeme integrieren.
Dennoch ist es natürlich so, dass auch Events wiederum zyklisch konzipiert sein können. Im Sinne der von der IEC 61499 definierten Objekte ist es dann etwa möglich, dass verschiedene Algorithmen, die über unterschiedliche Zykluszeiten verfügen, von demselben Gerät, beziehungsweise Funktionsblock abgearbeitet werden können.
Wenn es darum geht, die Potenziale von Industrie 4.0 voll abzurufen, dann kommt es nicht nur auf die richtigen Technologien an. Auch die Art und Weise, wie automatisierte Anwendungen orchestriert werden, sollte zeitgemäßen Ansprüchen genügen. Insbesondere eine grundsätzliche Herstellerunabhängigkeit, aber auch die Entkopplung von Hardware und Software spielen dabei eine wichtige Rolle. Denn nur so ist es möglich, die ingenieurstechnischen Freiheiten zu nutzen, die für die Entwicklung nachhaltiger und langfristig wettbewerbsfähiger Anlagen vonnöten sind. Vor diesem Hintergrund ist es also kaum verwunderlich, dass gerade die Norm IEC 61499 heute wieder in den Fokus rückt. Denn auch wenn sie bereits vor über 15 Jahren verfasst wurde, so beschreibt sie mit verteilter Intelligenz, Eventorientierung und Herstellerunabhängigkeit doch eine Automatisierungslogik, deren Eigenschaften ideal auf die Anforderungen heutiger Anlagen zugeschnitten sind. Beispiel Plug-and-Produce: In der gegenwärtigen Automatisierungswelt ein Prinzip, das kaum umsetzbar ist. Bei der IEC 61499 gehört es zum Standard.