Die IT hält zwar verstärkt Einzug in der Industriewelt. Aber insbesondere die Open Source Software hat noch Etablierungsbedarf. Ein Appell an den Veränderungswillen der Old Economy.
In den 90er Jahren glichen sich die IT- und die OT-Welt (Operational Technologie) noch einigermaßen: Microsoft dominierte die Welt der Betriebssysteme. Anbieter proprietärer Systeme wuchsen und verdienten viel Geld. Diese Unternehmen trieben die Innovationen. Machbar war, was käuflich zu erwerben war. Ein Vendor-Lock-In durch den Anwender war willkommen. Die meisten User akzeptierten das.
Dies änderte sich gegen Ende der 90er- Jahre. Erste Initiativen wollten sich nicht länger mit dem Zustand abfinden. Gruppen von Gleichgesinnten schlossen sich zusammen. In dieser Zeit entstanden frühe Linux-Versionen; Webserver, wie der Apache Webserver oder Projekte wie das Samba-Projekt, welches es sich zum Ziel gesetzt hatte, Linux Server in Windows Netzwerke zu integrieren. Die Verantwortlichen nannten diese Form der Kollaboration: Open-Source (OS). OS basierte damals vorwiegend auf den Sprachen C und C++. Java verdrängte die Sprachen mit der Zeit von den Spitzenplätzen. An diesem Punkt trennten sich die Wege der IT und OT.
Die Open Source Philosophie fand immer mehr Anhänger. Das Problem: Nur wenige waren gewillt, sich in komplexe Projekte mit C und C++ einzuarbeiten. Mit Java entfiel die Komplexität. OS-Vordenker entwickelten erste Open-Source Build-Systeme, die die Probleme der C und C++ basierten Systeme eliminieren sollten und es jedem ermöglichten Teil einer OS-Community zu werden.
Während bei den kommerziellen Softwareentwicklern kein Interesse bestand, eine funktionierende Lösung infrage zu stellen, entstanden im OS Umfeld viele verschiedene Lösungen für ein Problem. Nicht alle Lösungen wurden angenommen. Auch konnte eine Lösung innerhalb kürzester Zeit von einer besseren ersetzt werden. Was einem Außenstehenden vielleicht als Verschwendung erscheinen mag, ist allerdings einer der größten Stärken von OS: Viele Menschen probieren aus, die guten Ideen setzen sich durch, die schlechten gehen unter. Die Lösungen, die überleben, übernehmen gute Teile von anderen Lösungen und werden dadurch stärker. Losgelöst von kommerziellen Interessen probierten Entwickler Dinge aus. Die Motivation: Oft Neugier oder einfach nur, weil es sonst noch keiner gemacht hat. Diese Denke hat einen gigantischen Innovationsschub ausgelöst. Das Problem dabei: Die Industriewelt konnte oder wollte sich auf diese Dynamik nicht einlassen. In einem Markt, in dem in Zyklen von Jahren geplant wird, war die OS-Welt mit ihren kurzen Innovationszyklen nicht beherrschbar.
In den Jahren von 2000 bis 2010 entwickelten sich erste Cloudangebote. Amazon oder Google wollten ungenutzte Rechenleistung nicht verschenken. Die Technologie gebar neue Konzepte: Big Data, Microservices oder auch Container waren direkte Ergebnisse dieser Entwicklung.
Doch nicht nur neue Geschäftsmodelle entstanden. Auch die Art, wie Software entwickelt wurde, hat sich in dieser Zeit fundamental geändert genauso auch die Methodik, wie Softwareprojekte organisiert wurden. Während in den 90ern und 2000ern noch vorwiegend mit klassischen Techniken, wie dem Wasserfall Modell oder RUP entwickelt wurde, so fand mehr und mehr eine Umstellung auf Agile Methodiken statt, um mit der wachsenden Dynamik und Geschwindigkeit in der Entwicklung standhalten zu können.
Bei dieser Geschwindigkeit war es für viele Unternehmen nicht mehr möglich, das Knowhow für alle Technologien im Haus vorzuhalten, daher entstand im IT-Feld ein immer größerer Markt, auf dem Consultants als reisende Knowhow-Träger in mehreren Unternehmen ihre Dienste anbieten. Die Entwicklung führte so weit, dass ein Unternehmen, das für sich eine neue Technologie einführen will, sich an einen Consultant wendet. Dadurch holte man sich das Knowhow ins Haus. Im Gegensatz zu proprietären Produkten gehört hier der Knowhow-Transfer, sofern der Kunde das wünscht, üblicherweise dazu.
Und auch in den OS-Communities entwickelt sich ein Geschäftsmodell. Einige OS-Projekte setzten sich auch so weit durch, dass sich kommerzielle Unternehmen um diese bildeten, die dann gezielt Services anboten: Consulting, Training, Support. Oftmals gibt es auch kommerzielle Erweiterungen um diese Open-Source Produkte, die besonders an die Bedürfnisse großer Unternehmen zugeschnitten sind. Sogar der Betrieb der Software wird teils ausgelagert: SAAS (Software As A Service) ist mittlerweile in aller Munde.
Viele Veränderungen in der IT-Welt, in der OT hingegen hat sich wenig getan. Manch ein Anwender aktualisierte das Betriebssystem, richtige Innovationen wie in der IT-Welt gab es kaum. Das führte dazu, dass sich nur wenige Expertinnen oder Experten in der OT intensiv mit den Entwicklungen in der IT beschäftigten – ein Fehler, der sich heute rächt.
Seit 2012 weckten Konzepte wie Industrie 4.0 und Smart Factory die Begehrlichkeiten der OT-Welt. Getrieben auch durch klassische Automatisierer, die mit gigantischen Budgets – auch im Marketing -die Industrie 4.0-Welle immer weiter ritten. Kaum einer der großen Anbieter kommt heute ohne eigene 4.0 Plattform im Angebot aus.
Bei genauerer Betrachtung stellt der Experte allerdings schnell fest, dass es für die meisten Probleme, die unter dem Begriff „Industrie 4.0“ laufen, schon lange ausgereifte Open-Source-Lösungen gibt. Dazu kommt: Viele der kommerziellen Lösungen der Automatisierer basieren „unter der Haube“ zu großen Teilen aus Open-Source-Lösungen.
Allein in Bezug auf den Datenaustausch mit Industrieller Hardware gab es keine universelle Lösung. Dafür entwickelte die Industrie mit OPC-UA ein „neues“ Protokoll, welches dieses Problem adressieren sollte. Neben OPC-UA hat sich in den letzten Jahren auch MQTT mehr und mehr etabliert. Allerdings erfordern beide ein Retrofit existierender Anlagen.
Da es im Bereich Open-Source keine zufriedenstellende Kommunikationslösung gab, entstand 2017 das Projekt Apache PLC4X. Das Ziel des Projekts: Die Kommunikation mit industrieller Hardware zu vereinfachen, indem es die Kommunikation mit neuen und Bestandsanlagen durch ihre nativen Protokolle ermöglicht. Es ist nun möglich, eine komplett auf OS basierende Lösung für fast alle Industrie 4.0 Usecases zu implementieren, ohne dabei auf ein Retrofit angewiesen zu sein (siehe Kasten).
Sofern noch nicht geschehen, sollte die Industrie erkennen, dass Industrie 4.0 mehr ein IT-, denn ein OT-Thema ist. Die Automatisierer haben dies größtenteils seit 2017 erkannt und begonnen, sich entsprechendes Knowhow ins Unternehmen zu holen – durch Akquisition entsprechender Unternehmen oder durch Rekrutierung entsprechender Know-how-Träger.
Apache PLC4X – Ein Open Source Projekt |
---|
Das Open-Source Projekt Apache PLC4X wurde 2017 mit dem Ziel gegründet, einen einheitlichen Zugang zu den Daten von SPSen und anderer Automatisierungshardware zu ermöglichen und damit das fehlende Bindeglied zwischen der Automatisierungswelt und der modernen IT zu bilden. Durch die Wahl der Apache Software Foundation als Heimat für dieses Projekt wurde sichergestellt, dass kein einzelnes Unternehmen die Kontrolle über das Projekt erhalten kann. Eine der Besonderheiten an PLC4X ist, dass es mit den Anlagen in ihren nativen Protokollen sprechen kann. Dadurch ist zum einen kein Retrofit nötig, um neue Protokolle zu unterstützen. Darüber hinaus ist die Performanz bei der Kommunikation oftmals um ein Vielfaches höher als bei der Verwendung von nicht-nativen Protokollen. Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass PLC4X in einer Vielzahl von Programmiersprachen verfügbar ist. Momentan werden: Java, C und Go schon voll unterstütz und die Community arbeitet derzeit an C#, Rust und Python. Mittels des generierten Code-Generierungs-Framework ist es auch möglich innerhalb kürzester Zeit eigene Treiber zu implementieren. Diese müssen nicht unbedingt Open-Source sein. Damit können auch Eigenentwicklungen oder sehr ungewöhnliche Systeme mit relativ geringem Aufwand eingebunden werden. |
Leider ist es momentan als IT-Fachkraft fast unmöglich, in der Welt der OT Fuß zu fassen. Zum einen sind, aufgrund ihrer starren Strukturen und Vorgehensweisen, klassische Konzerne nur in geringem Maße interessante Arbeitgeber für OS-Freigeister. Darüber hinaus spezialisieren sich viele Fachkräfte auf bestimmte Technologien, ein einzelnes Unternehmen bietet oft nicht genug Entfaltungsfreiraum, um diese auf Dauer glücklich zu machen.
Daher sind viele IT-Fachkräfte im OS-Umfeld als Consultants tätig. Der Einkauf in größeren Unternehmen ist in der Regel auf die Zusammenarbeit mit Preferred Vendors eingestellt. Leider sind r oftmals die Unternehmen, bei denen diese Consultants arbeiten, nicht als solche gelistet. Alles was über einen kleinen Proof-Of-Concept hinausgeht, ist somit oftmals nicht ohne weiteres möglich.
Im Gegensatz zur klassischen IT-Welt, gibt es in der OT-Welt noch keinerlei Infrastruktur, die es Freiberuflern ermöglicht, über Zwischenhändler tätig zu werden. Hier müssen sich erstmals Unternehmen etablieren und als Preferred Vendor listen lassen. Bis das allerdings soweit ist, wird es vermutlich noch einige Jahre dauern.
Bei der Anwerbung von Fachkräften werden zudem oft unverhältnismäßig niedrige Gehälter angeboten – höhere Gehälter würden nicht ins Gehaltsgefüge passen, ist als häufiges Argument zu hören. Das Problem ist allerdings, dass die restliche Welt durchaus gewohnt ist und bereit ist diese Gehälter zu bezahlen. Warum sollte also eine qualifizierte Fachkraft freiwillig auf ein höheres Gehalt verzichten, nur damit es ins Gehaltsgefüge passt? Darüber hinaus gelten in der restlichen Welt oftmals zusätzliche Dinge wie Remote-Arbeit, flexible Arbeitszeitmodelle, Förderung des fachlichen Austauschs, Entscheidungsfreiheit zu den Standards. Diese Punkte sind in der OT-Welt bislang recht unbekannt und werden oftmals nicht angeboten. Als Konsequenz bleibt: Potenzielle Mitarbeiter bewerben sich schlichtweg nicht.
Einige Unternehmen versuchen diese Probleme zu umgehen, indem sie Digitalisierungs-Hubs ausgründen. Losgelöst vom starren Konzern, sollen diese eine Umgebung bieten, in denen sich die gesuchten IT-Fachkräfte wohl fühlen und selbstverwirklichen können. Leider sind diese allerdings in der Regel dennoch in die starren Strukturen ihrer Mutterkonzerne eingebunden und diese Freiheit wird dadurch erheblich reduziert.
Darüber hinaus existieren in der OT-Welt historisch gewachsene Wertesysteme und Strukturen, welche ungewollt fast automatisch gegen den Einsatz von OS arbeiten. Beispielsweise wird das Prestige von Leitungspersonen oftmals am Budget gemessen und weniger aus deren Wirtschaftlichkeit. Der Einsatz von Open Source würde zwangsläufig eine Reduktion der Kosten bewirken. Dies würde in einem geringeren Budget resultieren und dies wiederum wäre eine Reduktion des Ansehens. Auch sind die Preisstrukturen im Automatisierungsumfeld üblicherweise sehr undurchsichtig. Viele Preise werden individuell verhandelt und abgesprochen. Viele Einkäufer haben Angst, bestimmte Privilegien oder Konditionen zu verlieren, sollte das Unternehmen anfangen andere Produkte einzusetzen. Das vermutlich größte Problem allerdings ist, dass in der Industrie generell alles als Betriebsgeheimnis gilt. Es existiert schon fast eine an Paranoia grenzende Angst auch nur das kleinste Bisschen an Informationen darüber, wie das Unternehmen arbeitet, an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen.
Die klassische Vorgehensweise der deutschen Industrie steht also auf dem Prüfstand: Um auf Dauer mit der Konkurrenz, vor allem aus dem Ausland, mithalten zu können, ist eine konsequente Digitalisierung unumgänglich. Diese kann auch nicht wie ein Produkt gekauft und installiert werden, es muss sich das Unternehmen auf allen Ebenen darauf einlassen und sich anpassen. Die moderne IT-Welt und vor allem die Open-Source Welt, hat für die meisten aktuellen Probleme der Industrie ausgereifte Lösungen und auch die Fachkräfte, diese umzusetzen oder dabei zu helfen. Die Industrie muss allerdings realisieren, dass in der IT-Welt andere Regeln gelten und sie sich nicht an alle Wünsche der Industrie anpassen wird. Vollauslastung gab es in der IT-Welt auch vor der Industrie-4.0-Welle und die wird es auch weiterhin geben. Die deutsche Industrie muss sich so schnell wie möglich aus ihrer Komfortzone begeben, oder sie wird sich über kurz oder lang zu einem Käfig entwickeln.