Wurde die Börsenrangliste noch vor zehn Jahren von Ölkonzernen mit dominiert, geben mittlerweile die Unternehmen der Digitalindustrie den Takt vor. Doch damit Daten fließen und diese Mehrwert schaffen können, bedarf es Pipelines in Form standardisierter Kommunikationsprotokolle.
Deutsche Politiker und Industrieführer betonen immer wieder Mantra-haft, dass wir die erste Hälfte der Digitalisierung in Europa und gerade auch in Deutschland regelrecht verschlafen haben. Grund dafür ist sicherlich, dass die deutsche Industrie als ‚Ausrüster der Welt‘, aber auch durch die boomende Automobilindustrie kaum einen Grund gesehen hat, am erfolgreichen Geschäftsmodell etwas zu ändern. Oder platt ausgedrückt: So lange das Faxgerät neue Bestellungen ausspuckt, braucht man sich auch keine Gedanken über neue Geschäftsmodelle zu machen – noch dazu, wenn sie disruptiv sind und möglicherweise am eigenen Stuhl sägen.
Vor über zehn Jahren wurde auf der Hannover Messe der Begriff ‚Industrie 4.0‘ geboren und entwickelte sich zum weltweiten Synonym für die datengestützte industrielle Wertschöpfung. Europa und Deutschland wollen damit die zweite Hälfte der Digitalisierung erfolgreich bestreiten und eine starke industrielle Grundlage und Basis unseres zukünftigen Wohlstands schaffen. Das aktuelle Industrie 4.0-Barometer der Unternehmensberatung MHP und der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München kommt zu dem Ergebnis, dass die DACH-Region bei der Nutzung digitaler Technologien insbesondere gegenüber China deutlich hinterherhinkt. Die Studienautoren weisen in ihrer Analyse darauf hin, dass chinesische Unternehmen einen um 20 % höheren Einsatz von Digitalen Zwillingen und doppelt so hohe Automatisierungs- und Fernsteuerungsraten von Anlagen aufweisen. Erfreuliche Ausnahme ist die Automobilindustrie, die unter hohem internationalen Wettbewerbsdruck steht: Fast zwei Drittel der befragten Automotive-Unternehmen gaben an, Kommunikationsarchitekturen wie 5G implementiert zu haben – 13 % mehr als bei den Referenzindustrien.
Offene Kommunikationsstandards befeuern die Innovationskraft und schaffen neue Mehrwertdienste mit hohem Wertschöpfungspotenzial. Dies war sowohl in den 1980er Jahren mit der Einführung digitaler Telefonie über ISDN als auch durch den GSM-Standard gegeben. Europa war in beiden Technologien als Telekommunikationsausrüster führend. Doch die Hardware wurde immer mehr zum Nebenprodukt mit geringen Margen: Zwar sind Ericsson und Nokia nach wie vor führend im Bereich mobiler Netzwerkinfrastruktur, wie der Ausbau der 5G-Netze zeigt, aber auf dem Gebiet der Endgeräte oder in digitalen Mehrwertdiensten spielt Europa nur eine untergeordnete Rolle. Das Internet mit seinem TCP/IP-Protokoll gilt als Paradebeispiel offener Kommunikationsarchitekturen: Auf dieser standardisierten Datenpipeline konnte dank des ‚World Wide Web‘-Protokolls, dessen Grundstein übrigens von Tim Berners-Lee am CERN in Genf gelegt wurde, eine völlig neue Digitalwirtschaft bis hin zum aktuell viel diskutierten Metaverse entstehen.
Selbige Dynamik spielt sich nun in der industriellen Kommunikationslandschaft ab. Mit den Industrie 4.0-Kommunikationsstandards TSN und OPC UA sowie dem neuen Mobilfunkstandard 5G ergibt sich eine spannende Paarung: Während TSN / OPC UA für die echtzeitfähige drahtgebundene Netzwerkkommunikation steht, ermöglicht 5G die echtzeitfähige drahtlose Netzwerkkommunikation.
Deutschland verfügt über einen wichtigen Standortvorteil: Während man beim Ausbau der kommerziellen 5G-Netze für Endkunden gegenüber anderen Ländern noch deutlich hinterherhinkt, ist Deutschland bei der Vergabe von Lizenzen für industrielle 5G-Funkfrequenzen weltweit in der Führungsgruppe. Laut aktuellen Zahlen der zuständigen Bundesnetzagentur (BNetA) wurden inzwischen 170 Anträge auf Zuteilung für lokale 5G-Netze, sogenannte Campus-Netze, erteilt. Darunter befinden sich Namen wie Accenture, Airbus, BMW, Porsche, Kuka, Mercedes Benz, Siemens und VW.
Neben der schnellen und kostengünstigen 5G-Lizenzvergabe an industrielle Partner durch die zuständige Bundesnetzagentur ist es ebenfalls von Vorteil, dass mit der OPC Foundation und der Vereinigung 5G ACIA zwei wichtige Standardisierungsgremien in Deutschland stark verankert sind. Mit Stefan Hoppe kommt der Geschäftsführer der OPC Foundation aus Deutschland, 5G ACIA wurde vom ZVEI ins Leben gerufen und hat sich zum führenden internationalen Verband für industrielle 5G-Kommunikation entwickelt.
Beide Verbände haben frühzeitig erkannt, dass eine strategische Zusammenarbeit von großer Bedeutung für den Durchbruch im Bereich standardisierte und durchgängige industrielle Datenkommunikation ist. Im vergangenen Jahr unterschrieben folgerichtig die OPC Foundation und die 5G-ACIA eine Absichtserklärung „zur Ermittlung von Synergien, wie OPC UA am besten über 5G laufen kann, zum Nutzen industrieller Applikationen“. Andreas Müller, Vorsitzender 5G-ACIA, brachte die Zusammenarbeit wie folgt auf den Punkt: „Mit der Integration von OPC UA und 5G werden zwei wichtige Bausteine zusammengeführt und bilden so die Basis für eine hochflexible und leistungsfähige Connectivity Fabric für die intelligente Fertigung“.
Mit der 3GPP-Version 16 wird die sogenannten „Ultra Reliable Low Latency Communication“ (URLLC) eingeführt. Damit steigt gegenüber dem Release 15 die Zuverlässigkeit von End-to-End-Verbindungen auf 99,999 %. Außerdem konnte die Positionsgenauigkeit deutlich verbessert werden, was vor allem für Paketzustellung interessant ist. Mit diesen Eigenschaften kann 5G URLLC gerade in industriellen Anwendungsfällen punkten. Auch ABI Research sieht das enorme Potenzial: Die Marktforscher gehen davon aus, dass der Markt für 5G URLLC bis zum Jahr 2026 18,9 Mrd. US-Dollar betragen wird. Hauptanwendungsfelder werden Mobilität und Transport, Fertigung und Gesundheitswesen sein.
Konkrete Anwendungsfelder mit großer Durchschlagskraft dürften dabei das fahrerlose Auto, der intelligente Warentransport, ferngesteuerte Fahrzeuge in der Produktion und vor allem Fabriken der nächsten Generation sein. Mittels TSN / OPC UA und 5G kann so in der Fabrik ein omnipräsentes Netz geschaffen werden, das Maschinen, Cloud- und Analysedienste sowie Prozesse verbindet. Im industriellen Umfeld sind hier insbesondere Einsatzgebiete mit zeitkritischem Prozesshintergrund wie Echtzeit-Robotersteuerung, Virtual Reality Anwendungen, Bewegungssteuerungsmaschinen und Fabrikautomatisierung zu nennen.
Ende Februar 2022 hat die EU-Kommission den „EU Data Act“ vorgestellt. Das Gesetz soll rechtliche, wirtschaftliche und technische Probleme beim Zugang zu Daten regeln, die bei der Nutzung vernetzter Geräte entstehen. Laut EU-Kommissar Breton wurden im Jahr 2018 33 Zettabyte an Daten erzeugt – bis 2025 sollen es 175 Zettabyte sein –, jedoch würden aktuell 80 % der im Bereich IoT/Industrie 4.0 generierten Daten gar nicht genutzt beziehungsweise systematisch ausgewertet. Ziel des Data Act ist nach Auskunft von Breton, der Industrie die Nutzung dieser von Maschinen erzeugten Daten zu erleichtern, damit sie die „Wachstums- und Innovationspotenziale“ besser ausschöpfen und gegenüber den großen amerikanischen und chinesischen Tech-Konzernen bestehen können. In Deutschland hat insbesondere die Automobil- und Chipindustrie das Thema 5G für die Fabrikautomatisierung schnell aufgegriffen, um aus den Daten Mehrwert und neue Geschäftsmodelle zu generieren.